
Die neue Leseordnung
Veränderungen und Kontinuitäten im liturgischen Kontext
Die folgende Analyse ist Teil eines umfassenderen Projekts, in dem ich die Unterschiede zwischen der traditionellen lateinischen Messe und der neuen Form der Feier der Eucharistie untersuche. Dabei liegt der Fokus auf den theologischen Auswirkungen der neuen Leseordnung, die oft subtil die katholische Lehre verändern oder verschieben.
In meiner Leseordnungs-Analyse beginne ich mit dem Missale von 1962 (das auch als Grundlage für die folgende Tabelle dient) und vergleiche es mit dem neuen Lektionar, um herauszufinden, was mit den ursprünglich enthaltenen Perikopen passiert ist. Häufig betreffen die Unterschiede die Epistel, die besonders theologische Dichte aufweist. Einfache Erzählungen aus dem Alten Testament oder Evangelium sowie Jesu Parabeln, die keine potenzielle theologische Spannung aufweisen, lasse ich meist außer Acht – es sei denn, sie wurden durch das Weglassen bestimmter Verse auffällig zensiert. Mein Ziel ist es nicht, einen vollständigen Vergleich der beiden Leseordnungen vorzunehmen, sondern die Analyse auf theologisch gravierende Unterschiede zu lenken.
Die Lesungen des adventlich-weihnachtlichen Teils des Kirchenjahres sind größtenteils ähnlich oder analog, mit gewissen Verschiebungen. Ein Beispiel dafür ist, dass die Epistel aus Titus 2,11–15, die im alten Missale am 1. Januar gelesen wird, in der neuen Leseordnung nur im Jahr A am 2. Adventssonntag auftaucht. Daher beginnt die folgende Tabelle mit der auffälligsten Zeit:
Missale von 1962 | Neue (1969) Leseordnung | Kommentar | |
1. | Septuagesima Mt 20,1-16 | am 25 So im Jahreskreis Mt 20,1-16a | Der Vers 16 wird hier um die zweite Hälfte gekürzt: „Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt” fehlt. |
2. | Aschermittwoch Mt 6,16-21 | Mt 6,16-18 | Das Evangelium wurde gekürzt. Die Betonung des Gebets und Fastens im Verborgenen, welche oft als Argument gegen öffentlichen Kult verwendet wird, bleibt erhalten. Die Notwendigkeit, aktiv Schätze im Himmel zu sammeln, ist jedoch entfallen. |
3. | 2. Fastensonntag 1 Thes 4,1-7 | entfallen (in der neuen Leseordnung zwar enthalten aber nur an einem Wochentag) | Eine besonders auffällige Streichung aus den sonntäglichen Lesungen – in dieser Perikope betont Paulus ganz deutlich die katholische Lehre, dass Heiligung ein lebenslanger Prozess ist und ein Streben nach immer mehr Vollkommenheit erfordert, dass auch Christen der Gefahr ausgesetzt sind, sündhaften Begierden zu erliegen. Insgesamt stellt dies ein sehr starkes Contra zu den protestantischen Lehren von „sola fide“ und „einmal gerettet – immer gerettet“ dar. |
4. | Hl. Joseph Bräutigam Sir 45,1-6 Mt 1,18-21 | 2 Sam 7,4-5a.12-14a.16 Röm 4,13.16-18.22 Mt 1,16.18 – 21.24a | Die neuen Lesungen betonen andere Aspekte im Leben des hl. Josef, die Perikopen sind jedoch auffällig zensiert: In 2 Samuel wurde die Züchtigung durch Gott als Vater gestrichen; in Römer wird das Alter Abrahams verschwiegen, was wahrscheinlich der modernistischen Skepsis gegenüber Wundern entspringt. |
5. | 3. Fastensonntag Eph 5,1-9 Lk 11,14-28 | entfallen, stattdessen: 1 Kor 10,1-6.10-12 oder: Röm 5,1-2.5-8 Am 19. So im Jahreskreis Lk 11,14-23 | Die fehlenden Verse aus 1 Kor sprechen von Unzucht und der Strafe dafür und weisen erneut auf die Gefahr hin, dass auch jene, die schon Christen geworden sind, der Sünde wieder verfallen können. Die alte Perikope aus Epheser 5 betont diese Gefahr und die Notwendigkeit eines heiligen Wandels. Die fehlenden Verse aus Röm 5 betonen, dass die Hoffnung nicht ein fertiges Produkt eines einmal abgeschlossenen Heilswerks ist, sondern durch Bedrängnisse, Geduld und Bewährung erreicht wird. Bei Lukas 11 die Verse 24–28 mit der Warnung vor der erneuten Gefahr durch unreine Geister wurden gestrichen. |
6. | 5. Fastensonntag Hebr 9,11-15 | Kommt als 2. Lesung an Fronleichnam; stattdessen hier: Röm 8,8-11; Hebr 5,7-9 oder Phil 3,8-14 | Bei der Perikope aus Hebr 5 fehlt hier der Vers 10 über Jesus als Priester nach der Ordnung Melchisedeks, was auf den Opfercharakter der Heiligen Messe hinweist. In Phil 3 erfordert die Äußerung gegen das Gesetz eine Unterscheidung zwischen rituellen Vorschriften und dem Dekalog. Positiv anzumerken ist der beibehaltene Vers 12, in dem Paulus seine noch anzustrebende Vollkommenheit anspricht. |
7. | Palmsonntag Phil 2,5-11 | Phil 2,6-11 am 26. So im Jahreskreis komplett 1-11 | Vers 5 ist weggefallen: ‚Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.‘ Es bleibt nur noch die Beschreibung der Kenosis Christi, ohne die Aufforderung zur Nachahmung. |
8. | Chrisammesse Jak 5,13-16 Mk 6,7-13 | auf 24. So Jahr B verschoben, stattdessen: Jes 61,1-3a.6a.8b-9 Offb 1,5-8 Lk 4,16-21 | Der Jak spricht hier von der Krankensalbung, während Jes die Aufmerksamkeit rein auf die messianische Sendung Christi selbst lenkt. Die Perikope aus der Offb betont das allgemeine Priestertum. In Mk 6 finden wir die Aussendung der Zwölf in Jesu Vollmacht (apostolische Vollmacht, Amtspriestertum), während Lk 4 praktisch nur den Inhalt aus Jes wiederholt. Diese sehr auffällige Verschiebung von den Sakramenten hin zum allgemeinen Priestertum in der Chrisammesse spiegelt sich auch in der Oration dieser Messe wider. |
9. | Abendmahlsamt 1 Kor 11,20-32 | Ex 12,1-8.11-14 1 Kor 11,23-26 | Eine weitere sehr auffällige und äußerst bedenkliche Streichung: Aus der Perikope aus 1 Kor wurden die Verse 27–32 mit der sehr ausdrücklichen Warnung vor unwürdigem Empfang der Eucharistie weggestrichen. Diese Warnung findet sich in der ganzen neuen Leseordnung nicht wieder, auch nicht an Fronleichnam |
10. | Ostersonntag 1 Kor 5,7-8 | Apg 10,34a-37-43; Kol 3,1-4 | Die neuen Lesungen enthalten nur die frohe Botschaft der Auferstehung, während 1 Kor zusätzlich auf die Notwendigkeit eines Wandelns hinweist, der dieser Botschaft entspricht. |
11. | Weißer Sonntag 1 J 5,4-10 | 1 J 5,1-6; Offb 1,9-11a.12-13.17.19 | In der Perikope aus der Offenbarung wurde hier das zweischneidige Schwert zensiert. |
12. | 3. Sonntag nach Ostern[1] 1 P 2,11-19 | 1 P 2,20b-25; Offb 7,9.14b-17 | Weggelassener Vers 1 P 2,20a spricht von selbstverschuldetem Leid, das nicht verdienstvoll ist. In der Offb-Perikope fehlt die Beschreibung der himmlischen Liturgie. |
13. | 4. Sonntag nach Ostern Jak 1,17-21 Joh 16,5-14 | Offb 21,1-5a Jak 1,19–20.23–26 am 22. So B Teilweise am Pfingstmontag | Erneute Betonung des allgemeinen Priestertums. Jak 1,21-22 weggelassen: „Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst!…“ Die Verse 8–11 kommen in der neuen Leseordnung nicht vor: Sie sprechen über den Heiligen Geist, der die Welt der Sünde überführen wird, sowie der Gerechtigkeit und des Gerichts. |
14. | Sonntag nach Himmelfahrt | Offb 22,12-14.16-17.20 | Die fehlenden Verse warnen davor, dass Zauberer, Unzüchtige usw. nicht in das himmlische Jerusalem eintreten werden und dass auch diejenigen, die das Wort Gottes verfälschen, entsprechend bestraft werden. |
15. | Fronleichnam 1 Kor 11,23-29 | Der Einsetzungsbericht aus 1 Kor fehlt in der neuen Leseordnung am Fronleichnam komplett, und am Gründonnerstag wurde er zensiert – es fehlt die Warnung vor dem unwürdigen Empfang (siehe oben) | |
16. | 2. Sonntag nach Pfingsten 1 Joh 3,13-18 | entfallen | Insbesondere das Entfallen des Verses 18: ‚Lasst uns nicht lieben mit Wort und Zunge, sondern in Tat und Wahrheit‘ in der neuen Leseordnung ist bedenklich. Da gerade im protestantischen Kontext die Zungenrede oft als Zeichen geistlicher Erfüllung gilt, wird 1 Joh 3,18 fast zu einem Gegensatzprogramm. |
17. | 3. Sonntag nach Pfingsten 1 P 5,6-11 | entfallen | Warnung vor dem Teufel als brüllendem Löwen fehlt in der neuen Leseordnung. |
18. | 5. Sonntag nach Pfingsten 1 P 3,8-15 | entfallen | Der Hinweis, dass Christen das Böse meiden und voller Eifer um das Gute sein sollen, fehlt |
19. | 11. Sonntag nach Pfingsten 1 Kor 15,1-10 | teilweise am Ostermontag | Am Ostermontag kommt diese Perikope zwar vor, aber ohne die Verse 9–10. Diese enthalten den Hinweis, dass die Gnade Gottes ohne unsere Mühe ohne Wirkung bleiben kann. |
20. | 21. Sonntag nach Pfingsten Eph 6,10-17 | entfallen | geistiger Kampf und „Waffenrüstung Gottes“ fehlt |
Im Folgenden möchte ich noch auf einige Perikopen hinweisen, die im Vergleich zum alten Missale in der neuen Leseordnung eingefügt wurden, jedoch in zensierter Form:
1. | 2. So im Jahreskreis (B) 1 Kor 6,13c-15a.17-20 | Warnung vor sexueller Sünde als Bild für geistlichen Ehebruch ausgelassen. |
2. | 22. So im Jahreskreis (B) Mk 7,1-8.14-15.21-23 | Einige präzisierende Verse fehlen, aus denen sich klar ergibt, dass Jesus hier eine klare Unterscheidung zwischen den Geboten Gottes und menschlichem Gesetz bzw. rituellen Vorschriften macht – eine sehr wichtige Unterscheidung, um die paulinische Gesetz-Gnade-Theologie richtig katholisch zu verstehen. |
3. | 22. So im Jahreskreis (C) Sirach 3,17-18.20.28-29 | Die fehlenden Verse warnen vor falscher Neugier und der Suche nach verborgenen Geheimnissen. Ein wertvoller Hinweis in Zeiten der Jagd nach Privatoffenbarungen. |
4. | 25. So im Jahreskreis (A) Phil 1,20c-24.27a | Der erste Teil von Vers 20 wird weggelassen. Er enthält den Hinweis, dass auch ein Gläubiger, sogar Paulus selbst, beschämt werden kann und dass die Gefahr besteht, dass er nicht in allem Christus verherrlicht. |
Positiv anzumerken ist, dass einige Abschnitte, die wichtige katholische Lehren enthalten, in der neuen Leseordnung beibehalten wurden, wie z. B. Gal 5,16–6,10 (Warnung vor Versuchungen), oder sogar hinzugefügt wurden, wie 2 Makk 12,43–45 (Opfer für Verstorbene), 1 Joh 5,2 und 1 Joh 2,3 (Liebe wird durch Einhalten der Gebote ausgedrückt), oder vom Quatemberfreitag in der Fastenzeit auf einen Sonntag verschoben wurden, wie Ez 18,20–28 (Absage an „einmal gerettet, immer gerettet“).
Zusammenfassung
In der neuen Leseordnung wurden zahlreiche biblische Texte verändert, wodurch ein klarer Trend hin zu einer Theologie sichtbar wird, die sich stärker an protestantischen und modernistischen Interpretationen orientiert. Besonders auffällig ist, dass viele biblische Passagen, die zentrale katholische Lehren betonen, entweder gekürzt oder ganz gestrichen wurden. Beispielhaft hierfür ist die Streichung von Versen, die auf die Notwendigkeit der aktiven Teilnahme an der Heiligung und der moralischen Verantwortung hinweisen. Wichtige Passagen wie die Warnung vor dem unwürdigen Empfang der Eucharistie oder die Betonung von „Heiligung als lebenslanger Prozess“ sind in der neuen Leseordnung entweder vollständig weggelassen oder in abgeschwächter Form enthalten. Statt der Betonung des Opfercharakters der Eucharistie und der Bedeutung von Sakramenten, wird der Fokus zunehmend auf ein allgemeines Priestertum verschoben, was im Einklang mit protestantischen Sichtweisen steht. Diese Veränderungen in der neuen Leseordnung spiegeln eine Verschiebung hin zu einer Theologie wider, die stärker auf persönliche, subjektive Erfahrungen und eine „vereinfacht“ interpretierte Gnade ausgerichtet ist, während die traditionelle katholische Lehre über die Bedeutung des Glaubens im Zusammenspiel mit den Werke und der sakramentalen Ordnung zunehmend verwässert wird.
[1] Die Zuordnung der alten Sonntage nach Ostern oder nach Pfingsten zu den neuen Sonntagen im Jahreskreis variiert von Jahr zu Jahr entsprechend dem Osterdatum. Die Zuordnung in dieser Tabelle entspricht in etwa den Daten von 2025.